Leseprobe

Decebal


„Jazz ist eine Sprache, die jeder lernen kann. Mit welchem Akzent man sie spricht, bleibt jedem selbst überlassen.”
Till Brönner


Neulich fuhr ich eine längere Strecke mit dem Opel meiner Allerbesten. Das tue ich eigentlich nur im Notfall oder wenn mein VW Bus in Reparatur ist. Dabei geht es mir nicht so sehr um die diversen Staus oder dem Fahrgefühl in diesem „Spitzenprodukt“ amerikanischer Ingenieure, nein, es geht um das Autoradio. Besser gesagt um die Musik die da ‚rauskommt. Aber leider gibt es einerseits in den letzten Jahren fast nur noch Einheitsmist auf dem Musiksektor, andererseits spielen die diversen Radiosender eben fast nur diesen Mist. Andauernd, 24 Stunden am Tag. Jeden Tag, jede Nacht. Dazwischen ebenso schlechte, fantasielose Werbung, garniert mit lächerlichen Sprüchen.

Scheinbar versucht jeder Sender den Konkurrenten an Geschmacklosigkeit und Ideenlosigkeit zu übertrumpfen. Sie spielen angeblich nur die wahren Hits, aber die senden sie so oft, dass sie bald keiner mehr hören kann. Hits „zersendet“ bis zum Erbrechen vom so genannten 24- Stunden-Formatradio.

Was ich besonderes schlimm finde: im Ausland läuft derselbe Mist. Ich war im Jahr 2012 in vier Ländern und habe die gleiche Musik gehört wie zu Hause. Pfui. Da erwartet man etwas anderes oder zumindest einen gewissen Anteil nationaler Musik. Einen herzlichen Dank der Globalisierung! Jetzt werden wir auch im Urlaub davon verfolgt; egal wo wir uns auf der Welt befinden. Zu dem globalen Gejaule passen natürlich die Produkte von McDonalds, Coca Cola, H&M, IKEA; u.s.w. die uns auf unseren Reisen begleiten; Ich glaube – verfolgen - ist der treffendere Ausdruck. Jedenfalls waren sie schon lange vor uns da.


Es ist für mich schwer zu ertragen und ich kann verstehen, dass immer mehr Leute zu den Musiktauschbörsen ins Internet getrieben werden, um sich ihre Playlisten selbst zusammenzustellen. Angeblich wird das Programm der Sender nach Umfragen in der Bevölkerung zusammengestellt. Mich hat noch nie jemand gefragt. Vielleicht war ich gerade damals nicht zu Hause. Wer weiß? Warum ein gutes Lied auf einem Sender zwanzig Mal täglich gesendet wird, das bleibt das Geheimnis der Sender …

So versucht man uns einzureden, dass wir das ultimative, einmalige Spitzenprogramm hören und auf keinen Fall wegschalten dürfen, da wir nur hier und jetzt die neue Nummer 1 finden. Manipulation? Vereinheitlichung des Geschmacks?


Neulich, ich glaube es war am 11.11.12 (genau: Helau) in der Festhalle Frankfurt, verkündete die „Sitzungspräsidentin“ Heidi Klump die MTV Europe Music-Avards-Gewinner. Siehe da, ich kannte kaum einen davon. Und das sagt einer der dachte sich auszukennen. Wer zum Teufel ist Taylor Swift? Eine Country Sängerin? In Europa? Und überhaupt, warum wird die Show von dieser Super-Zicke moderiert? Kann die jetzt auch noch singen? Wahrscheinlich war sie mit Seal so oft Input, dass sie ihr Talent von ihrem Ex heruntergeladen hat!

Toll, die Swift sieht ja gut aus, mal sehen ob sie auch so schön singen kann, dachte ich und hörte sie mir auf You Toube an. Ich muss gestehen, ein Kracher war das Liedchen nicht. Statt das zu kaufen werde ich mich als Cowboy verkleiden, zu allen Sitzungen in Mainz gehen und singen:“ Wir werden niemals wieder zusammenkommen!“ (We Are Never Ever Getting Back Together ) Dabei werde ich ein Striptease machen, dazu den Schwanensee tanzen. Hellau! Denn ich traue dem närrischen Publikum mehr Geschmack zu, als dem MTV Gericht.

Eigentlich bin ich jetzt der Bundeswehr dankbar, dass ich in meinem Löwen-Bus keine Stereo-Anlage habe, aber stattdessen noch den Gewehrständer. Lieber vollständige Sendepause, als dieses Gejammer. Klar kann ich mir meine eigenen CDs abspielen, MP3s oder andere moderne Möglichkeiten nutzen, würde aber dabei taub werden. Sind sie schon mit einem Panzer gefahren? Viel leiser ist dieser Bus nicht. Da kann man keine Musik hören, auch wenn man will. Man versteht ja seine eigenen Flüche nicht.


Dem Internet sei Dank gibt es heute viele Möglichkeiten seine Musikrichtung zu finden! Vor allem kann jeder sich das aussuchen, was ihm gefällt. Musik nach seinem Geschmack.

Das war in meiner Jugend leider nicht so. Aufgewachsen im Sozialismus mit rumänischer Volksmusik und musikalischen Huldigungen an den wild gewordenen Diktator Nicolae Ceausescu, hatten wir uns eine Nische gesucht und auch gefunden: den Jazz. Da dieser relativ unpolitisch war, hatten ihn die staatlichen Zensoren erlaubt. In dieser Zeit ist in der rumänischen Jazzszene ein neuer Grundstein gelegt worden für junge, sehr gute Musiker. Die Jazzszene wurde vom Staat gefördert, da es – wie schon erwähnt - unpolitische Musik war die meistens instrumental gespielt wurde, also ohne Text, und deshalb für das Kommunistische Regime keine Gefahr bedeutete. Auch wenn sie vom Klassenfeind kam. Somit hatten wir alle unsere Nische, in die wir schlüpfen konnten und die unsere Fantasie anspornte.

So wurde das erste rumänische Jazzfestival in Hermannstadt 1974 veranstaltet. Da ich 1970 Gründungsmitglied des Jazzclubs war und der Präsident mein Musiklehrer Nae Ionescu der Veranstalter des Festivals, durfte ich mithelfen: wir schleppten Instrumente, holten die Musiker vom Bahnhof bzw. Flughafen ab, besorgten Lebensmittel und diverse Getränke, (ein schier unmögliche Tätigkeit in der rumänischen Misswirtschaft der 70er Jahre), bauten alles auf und ab und transportierten danach die Instrumente zu uns nach Hause, wo jede Nacht ein Jam Session stattfand.

An diese nächtlichen Konzerte erinnert sich die ganze Strasse. Auch heute noch. So wurde Hermannstadt (und ist es bis heute auch geblieben) die Hauptstadt des Jazz und unsere Nachbarn wurden echte Jazzexperten.


Eines Tages kam Besuch aus Deutschland und ich bekam Musik. Hurra! Geschenke für den Wolfi: Das war ein Feiertag! Steely Dan, Roberta Flack, Lee Ritenour, Chick Chorea, Michel Camilla, Chaka Khan und The Ojai’s. Als erstes galt es die LPs (Langspielplatte aus Vinyl, damals sehr modern) zu verteidigen und mir die Meute der Musikinteressierten vom Leibe zu halten. Ich nahm sie alle auf Band auf und tauschte danach die Platten gegen andere ein. Es fand in der Zeit ein reger Tauschhandel statt da es diese Platten in ganz Rumänien nicht gab. Miles Davis, Keith Jarrett, Chic Corea, Genesis, Van der Graff Generator, King Crimson und Weather Report, kamen so auf meinen Plattenteller. Das war in Ordnung für mich. Ich lernte so all diese Musiker kennen und lieben. Einige kamen auch zu uns nach Hermannstadt zum Festival und spielten anschließend in unserer Wohnung. Schon ein besonderes Gefühl Zbigniev Namyslowsky auf meinen Schreibtisch sitzen zu sehen und auf seinem Saxophon zu spielen.


Nach meiner Ausreise machte ich mein Hobby zum Beruf. Im Quartier durfte ich zehn Jahre den Frühschoppen und im Caveau jeden Dienstagabend Konzerte organisieren. Da kamen mir meine musikalische Vorbildung und meine Verbindungen zu den Musikern aus meiner alten Heimat zu gute.
Eines Tages, kurz nach der Revolution, meldete sich Mircea Tiberian bei mir. Wir waren zusammen in der Grundschule gewesen. Er lebte als Pianist in Bukarest und hatte eine Tournee mit seinem Trio durch Europa organisiert. Wir hatten schnell einen Termin gefunden und so spielte das erste Rumänische Jazztrio in Mainzer Caveau. Eugen Gondi die Rumänische Schlagzeuglegende, Mircea Tiberian am Klavier und ein junger Bassist aus Bukarest: Decebal Badila. Ich kannte den ehemaligen Mathematik- und Physikstudenten nur vom Programm des Hermannstädter Festivals, hatte ihn aber weder live gesehen noch persönlich kennen gelernt. Tja und jetzt stand der gefragteste Bassist Rumäniens auf „meiner“ Bühne. Es war ein gutes Konzert. Das Publikum stürmte danach zu mir und fragte mich Löcher in den Bauch: „Wolfi, wer war das am Kontrabass?“ „Was für ein Typ!“ „ Von dem hören wir noch…“ „Wolfi, was weißt du über Decebal?“ Gute Frage wurde mir da gestellt.


Im August 2012 flog ich von Bukarest nach Frankfurt. Wir hatten in Hermannstadt eine erfolgreiche Lesung hinter uns gebracht und jetzt ging’s wieder nach Hause, nach Mainz. Ich war in Gedanken schon im Löwen. Dementsprechend schnell versuchte ich aus dem Flugzeug zu kommen um mein Gepäck abzuholen um rechtzeitig in Mainz zu sein. Vor mir ging, Hand in Hand, ein älteres Pärchen in Richtung Passkontrolle. Sie hatten mir sehr freundlich Platz gemacht und mich vorgelassen. Mir war aufgefallen, dass er seiner Frau immer den Vortritt ließ, dass er alle Türen öffnete und sämtliches Gepäck trug. Ein Kavalier alter Schule der seiner Frau seine Wertschätzung in jeder Sekunde zeigte. Und das nach so vielen Jahren Ehe. Wie frisch verliebt. Chapeau! Ich war schwer beeindruckt. So etwas sieht man kaum noch.


Zwei Seelen gingen Hand in Hand
In Gleichheit tief verbunden
Ihr Wesen war, wie ich es fand
tief in Liebe gebunden …


Sie warteten auch bei der Passkontrolle bis alle durch waren und sahen sehr interessiert zu. Ich bemerkte einen gewissen Respekt vor den Polizisten, Respekt vor der Uniform. Deshalb blieb ich in ihrer unmittelbaren Nähe um bei einem Problem notfalls als Übersetzer einspringen zu können. Denn dieses Pärchen war mir ans Herz gewachsen. Ich stellte mir meine Großeltern vor, meine Eltern, uns …

 

Was für ein tolles Paar! Es ging alles gut, sie bedankten sich freundlich bei dem Grenzbeamten und gingen Richtung Gepäck Abholung. Ich sah es dem überraschten Grenzer an: so nette Menschen hatte er schon lange nicht mehr vor seinem Tresen gehabt. Ich holte mein Gepäck ab, stürmte durch den Zoll und suchte meine allerbeste Ehefrau die mich abholen wollte. Doch sie war noch nicht da, aber ich fand jemand anderes: Decebal!

 

„Hey Wolfi, warst du in Rumänien? Schön dich zu sehen! Schau ich warte auf meine Eltern, die kommen auch mit diesem Flugzeug!“

„Wolfi, was weißt du über Decebal?“ Gute Frage wurde mir da gestellt. Jetzt kannte ich die Antwort. Die beiden waren nämlich seine Eltern. Ich durfte sie persönlich kennen lernen. Mir war klar: Sie hatten ihm ihre Werte vermittelt. Darum hat dieser fantastische Musiker keine Starallüren trotz seines Talents. Er ist immer noch bescheiden und freundlich geblieben. Ich kannte bisher nur das Offizielle über ihn: dass er in Constanta geboren wurde. Dass seine erste Liebe dem Klavier galt, anschließend spielte er Kontrabass. Mit 11 Jahren gewann er den 1. Preis des Nationalfestivals als Solo-Kontrabassist. 1986 wurde er von führenden Jazz-Magazinen zum besten Bassisten Rumäniens gewählt. Die üblichen Lobpreisungen. Deshalb fragte ich ihn einfach was für Pläne er hätte.


„Ich werde in Köln wohnen, da ich ab nächster Woche an der Hochschule für Musik mein Jazz-Studium beginne. Das ist praktisch, dann kann ich öfter in Mainz spielen.“
Liebe Musikfreunde: ich war hocherfreut. In den folgenden Jahren spielte er in der Tat öfter für uns. Ob mit Frank Nimsgern oder anderen Bands. Das „Bassduell“ mit Kai Eckardt-Karpeh auf unserer kleinen Bühne, werde ich wohl nie vergessen. Eines Abends, nach einem Konzert im Caveau, sahen wir uns den amerikanischen Gitarristen Lee Ritenouer im TV an. Am Bass: Anthony Jackson. „Wow, der Mann kann spielen. Er ist ein wahrer Meister. Der Beste!“ Decebal war begeistert. „Schau doch mal was für einen tollen Bass er spielt!“


Jahre später standen wir mit Decebal im Caveau und unterhielten uns über seine Abschlussarbeit. Er hatte die "Künstlerische Reifeprüfung" mit Bestnote und Auszeichnung absolviert und wurde von Eugen Cicero begleitet. (Das ist der Vater von Roger Cicero) An diesem Abend spielte die Ex Miles Davis Schlagzeugerin Terry Lyne Carrington im Caveau. Am Bass der berühmte, ja sie ahnen es, Anthony Jackson. Dieser kam die Treppen runter, sah Decebal, stellte die beiden Bässe die er schleppte einfach ab und kam auf Decebal zugestürmt, umarmte diesen, sah mich an zeigte auf ihn und sagte folgendes: „Wow, der Mann kann spielen. Er ist ein wahrer Meister. Der Beste!“ Anthony war begeistert. Decebal, mittlerweile ganz rot im Gesicht geworden, wehrte bescheiden ab, doch es half nichts, der Amerikaner überschüttete ihn mit Lob. In diesem Moment wusste ich es: Decebal Badila, dieser sympathische Alleskönner war in der Weltspitze angekommen.

 

… und heute in Mainz-Gonsenheim!