Leseprobe

Äpfel


Ich esse aus Prinzip keine Äpfel. Nicht weil sie mir nicht schmecken, sondern weil ich in meiner schweren Kindheit jedes Mal zum Zahnarzt geschickt wurde: „Wolfi, kümmere dich um deine Parodontose, wieder ist der Apfel voller Blut …”.


Ich bekam täglich einen Apfel mit in die Schule und genauso oft wurde ich zu Frau Jentner geschickt. Diese war die Schulärztin und für alles zuständig. Auch für das Fleischbeschauen. Wenn ich aus dem Kabinett 'rauskam, blutete ich noch stärker. Dann nicht nur das Zahnfleisch, sondern auch die Ohren. Sie redete so schnell und so viel, dass einem automatisch die Ohren bluteten. Ich vermute, dass Frau Jentner durch Kiemen atmete. Sie konnte reden, ohne Luft zu holen.


„Sag mal Wolfi, du hast aber eine schlechte Durchblutung ... rauchst du? … das muss ich deiner Mutter sagen, also du bist viel zu jung dafür … oder putzt du dir nicht regelmäßig die Zähne? … deine Gingivitis ist so stark, dass ich befürchte, du musst täglich zu mir kommen … also ich meine du isst zu wenig Obst … sag deiner Mutter, Äpfel sind sehr gesund und helfen gegen Parodontose … weißt du Wolfi, das ist keine Erkrankung, die von heute auf morgen entsteht. Sie benötigt Wochen bis Monate ... ich werde sie aber besiegen ... ”.


Sie hat es nie geschafft. Aus der Zeit stammt mein Tinnitus. Ich bin sicher, Frau Jentner ist Schuld an meinem Klingeln in den Ohren, hervorgebracht durch ihren Redeschwall. Aber sie war es auch, die mein Klingeln in den Taschen verursachte. Dafür war ich ihr auch dankbar. Meine Mutter nahm Frau Jentners Rat als Anlass, mir ab diesem Tag täglich drei Äpfel mitzugeben. Diese sammelte ich in meiner Schultasche und ging am Wochenende auf den Markt und verkaufte sie. Acht Äpfel für zwei Lei. So hatte ich in der fünften Klasse mehr Taschengeld als meine Klassenkameraden. Dafür konnte man sich damals fünf Kugeln Eis kaufen und so seine Parodontose pflegen. Oder zwei Schokoladen für einen Lei. Kakaocreme. Schmeckte Weltklasse. Oder vier Eugenia (Doppelkeks, mit feiner Schokolade gefüllt). Oder acht Brezeln. Harte Brezeln, schlecht für die Parodontose. Oder zwei Sicola. Das war so eine Art Balkan-Cola, nur war die Pampe mit viel mehr Zucker versetzt als das Original. Da stand der Löffel im Glas – natürlich Gift für die Zähne


Das alles wusste zum Glück Frau Jentner nicht. Sie wusste auch nicht, dass ich trotz meiner damaligen Parodontose ein Verhältnis mit ihrer hübschen Tochter hatte. Wenn sie es gewusst hätte, hätte ich sicherlich auch ein Augenleiden (blaues Auge) bekommen. So hatte ich nur einen Angst-im-Nacken-Konflikt. Das bedeutet eine Gefahr, der man nicht ins Auge sehen kann, die ständig von hinten droht oder lauert, und die man nicht abschütteln kann. Das war nämlich der Marktmeister, der die Steuern kassierte. Ich verkaufte ja meine schwer erkämpften Äpfel schwarz am Wochenmarkt. Deshalb suchte ich mir einen weniger gefährlichen Standort und setzte mich einfach auf eine Bank in den Park. Die Äpfel breitete ich auf einem Taschentuch aus und wartete auf Käufer. Meine Mutter wunderte sich über die vielen dreckigen Taschentücher, freute sich aber, da sie dachte, ich benutze diese zur persönlichen Hygiene. Das Geschäft war natürlich nicht so gut wie am Markt, aber da die Lage günstig war wegen der vielen verliebten Paare, die durch den Erlenpark spazieren gingen, verkaufte ich irgendwann auch Blumen. Davon hatten wir ja genügend im Garten. Leider gehörten diese nicht mir, sondern der Frau Keul, meiner Vermieterin. Und irgendwann waren die Blumen und Äpfel alle weg und ich war gezwungen, mich nach einer anderen Geschäftsidee umzusehen.


Es war eine schöne Zeit. Sorgenfrei. Schließlich waren wir in der damaligen Diktatur alle gleich gestellt. Der eine mit, der andere ohne Parodontose. War alles Scheiß egal. Hauptsache Geld für Eis und Kino.


Nach 35 Jahren saß ich im gleichen Park auf der gleichen Bank und beobachtete einen Jungen, der Äpfel und Birnen verkaufte. Ich war nach Hermannstadt zum Zahnarzt gekommen, da die Behandlung in Deutschland einfach zu teuer ist. Was in meiner neuen Heimat 12.000 € kostet, wird hier für 2.000 € gemacht. Gleiche Qualität für weniger Geld. Noch waren die Zahnärzte nicht auf Gold gestoßen. Noch. Der Junge, der Äpfel verkaufte, scheinbar auch nicht. Er verkaufte in den beiden Stunden gerade mal vier Äpfel und eine Birne. Obwohl ich nichts essen konnte, kaufte ich ihm alles ab und verschenkte das Obst in der Praxis. Da musste ich täglich zweimal hin. Einmal morgens zum Ziehen und abends zur Kontrolle. Die Pausen nutzte ich zu ausgedehnten Spaziergängen durch den schönen Hermannstädter Erlenpark. Dabei traf ich den ärmlich gekleideten Jungen täglich auf seiner Bank und kaufte ihm das ganze Obst ab. Er freute sich immer, mich zu sehen. Leider konnte ich mit ihm in den ersten Tagen nicht sprechen, da ich den Mund nicht aufmachen konnte. Es war diesmal nicht die Parodontose, sondern die Extraktionen meiner Zähne, die mir zu schaffen machten. Stumm wie ein Fisch beobachtete ich den Jungen eine Woche lang.


Er kam aus Michelsberg, einem vier Kilometer entfernten Dorf. „Ich komme jeden Tag nach der Schule hierher, um Obst zu verkaufen.“ Die acht Kilometer legte er täglich auf einem 20 Jahre alten Fahrrad zurück. „Es ist ein echtes Tohan (alte rumänische Marke) von meinem Vater.“ Dieser war vor ein paar Jahren an einer Leberzirrhose gestorben. „Jetzt lebe ich mit meiner Oma, meiner Mama und vier Geschwistern in einer ärmlichen Hütte am Rande von Michelsberg. Meine Mama hat eine Arbeit“ sagte er mir stolz, „sie verdient 200 Euro als Verkäuferin bei Carrefour in Hermannstadt. Da meine Oma nur 80 Euro Rente hat, muss ich das Obst aus unserem Garten verkaufen, um mir die Schulsachen zu finanzieren.“ Er geht auf das Gymnasium Nr. 5 in Hermannstadt und ist besonderes stolz darauf. „Ich möchte nach dem Abitur gerne Informatik studieren, kann mir aber im Moment leider keinen Computer leisten.“ Er hat ausgerechnet, wenn er in den Ferien die fünf Sommer bis zur Uni viel Obst verkauft, kann er sich vielleicht einen gebrauchten PC leisten, wenn er nicht zu viel von seinem schmalen Verdienst abgeben muss. „Schließlich bekomme ich für vier Stück nur zwei Lei.“ Und das Geschäft wird immer schlechter. „Die Krise hat die Leute vorsichtiger gemacht.“ Er hätte viele beobachtet, die sich selbst bedienten. „Sie steigen in fremde Gärten ein und plündern die Bäume, wie soll ich da mithalten?“ Manchmal ist er verzweifelt. „Diesen Herbst weiß ich nicht wovon ich die Schulsachen für mich und meine Schwestern bezahlen soll.“ Sie brauchen Hefte, Schulbücher und Stifte. „Die Uniformen näht uns die Oma, da kann man sparen, aber meine kleineren Schwestern brauchen auch Geld für neue Schuhe und die sind teuer.“ Sie waren noch nie im Urlaub gewesen. „Ich stehe jeden Sommer hier und hoffe dass es besser wird.“ Das Gegenteil war der Fall. „Nächsten Sommer werde ich mir noch einen Job suchen. Vielleicht kann ich am Sonntag irgendwo Gras mähen oder zur Ernte gehen. Ich kann ja alles machen.“ Leider ist die Arbeit am Lande nicht gut bezahlt, aber: „Arbeit ist keine Schande!“
Seine Familie hat ihm immer den nötigen Rückhalt gegeben, deshalb will er unbedingt die Schule beenden und sein Abitur machen, um zu studieren.„Ich habe nur Einsen. Vielleicht bekomme ich ein wenig Unterstützung vom Staat, das würde uns sehr helfen.“
Mit einem Leuchten in den Augen erzählt er mir, wie sie neulich eine „Schokolade mit einer lila Kuh gegessen haben.
“Es war ein Geschenk eines Ex-Nachbarn, der zu Besuch in der alten Heimat gewesen war und den Kindern etwas Gutes tun wollte. „Schmeckt wirklich alles so gut dort bei euch in Deutschland?“
Ohne meine Antwort abzuwarten beeilt er sich, seine Frage selbst zu beantworten: „Vielleicht werde ich nach meinem Studium auch nach Deutschland zum Arbeiten fahren.“ Schließlich wäre das Leben dort süßer …
Am letzten Tag meines Zahnarztbesuches ging ich mit neuen, frischen Zähnen bewaffnet, zu meinem kleinen Freund in den Erlenpark und kaufte ihm seine Ernte für die nächsten vier Jahre ab. Zum Abschied schenkte er mir einen besonders schönen Apfel: “Er soll Ihnen nicht nur gut schmecken, sondern auch viel Glück bringen ...“.
In der Tat, es war der schmackhafteste Apfel den ich je gegessen habe. Vor allem ohne Blutspuren.